David Angerer (8c) gewinnt die Vorarlberger Philosophie Olympiade! Wir gratulieren herzlich!
Wir lieben die Wahrheit, solange sie uns gleichgültig lässt. Simone Weil: Cahiers 3, München 1996
Die Wahrheit. Was ist das schon.
Für manche Menschen ist die Wahrheit Gott, für andere ist sie etwas sich ständig Veränderndes. Nur weil der Apfel heute vom Baum fällt, heißt das nicht, dass er es immer tun wird. Gesellschaftliche Wahrheiten, also sogenannte intersubjektive Wahrnehmungen, von denen wir ausgehen, dass sie wahr sind, können sich schon so in uns eingefleischt haben, dass wir ganz vergessen, dass sie vielleicht mal falsch waren oder einmal falsch sein können. Oder dass sie gar an einem anderen Ort und in einer anderen Kultur nicht falsch sind. Wir können uns nicht vorstellen, was es bedeuten würde, wenn plötzlich verkündet werden würde, dass ab morgen sich alle Menschen wie Affen verhalten müssen, denn man habe herausgefunden, dass der Bonobo der bessere Menschenaffe als der Mensch sei und sich ab sofort alle Menschen wie Bonobos zu verhalten haben. Der Bonobo sei statistisch friedvoller, sozialer und gerechter. Der Bonobo kennt keinen Mord, Rassismus sei bei ihm auch nicht aufzufinden und er scheint der grundlosen Gewalt eher abgeneigt. Daher: Ab sofort imitieren wir alle den Bonobo. Der Bonobo, Schwesternart des Schimpansen, wird heiliggesprochen, wir geben unsere industrielle Welt auf, eh besser wegen Klimawandel, kehren zurück in die Natur, hören auf, unsere Toten zu begraben und laufen nackt herum. Wie würden Sie wohl reagieren? Kein angenehmes Bockspringbett mehr, keine Heizung im Winter, kein Essen im Kühlschrank. Dafür bitterkalte Nächte im Wald, ein Kampf ums tägliche Überleben und Hunger. Und das alles nur, weil ein paar Politiker gesagt haben, so geht das nicht mehr weiter, zu viel CO2 Ausstoß, zu viel Mord, schaut euch doch die Bonobos an, wieso können die das so viel besser? Und derweil haben sie noch recht, die Bonobos sind CO2 neutral und sich gegenseitig töten tun sie erst gar nicht. Sprich, es ist die Wahrheit.
Würden Sie sich nicht wehren, ihr Hab und Gut verteidigen, vor dieser riesigen Umwälzung? Wir Menschen sind Gewohnheitstiere, unser Gehirn mag, was es schon kennt. Die meisten von uns sind eben Konformisten, die rapide Änderungen hassen. Wir geben uns so viel Mühe in jungen Jahren, in das System hineinzupassen, wir lernen eine Sprache, soziale Normen, was man wie wann tun darf. Und dann werden wir älter und wundern uns über die jüngere Generation, die viele Grenzen neu zu definieren scheint. Dieses Phänomen gab es schon im antiken Griechenland, wo man sich um den Verfall der Sitten der Jugend durch Sokrates & Co sorgte. Wir lieben die Wahrheit, solange sie uns in Ruhe lässt und solange sie niemand verändert. Man könnte fast sagen, wir fürchten Veränderung, denn sie könnte unser Weltbild auf den Kopf stellen.
Früher, als wir noch als Nomaden in Gruppen von etwa 150 Personen durch die Wälder gestreift sind und gesammelt und gejagt haben, schien alles noch in Ordnung zu sein. Man wuchs in einem Stamm auf, lernte die Kultur, die gängige Art zu kommunizieren, wie die soziale Hierarchie aufgebaut war und es funktionierte. Denn ein damaliger Nomade vor der Sesshaftwerdung sah in seinem ganzen Leben maximal 1000 andere Menschen, neben seinem eigenen Stamm. Wenig Reibung für neue Ideen und Kultur. Wir mussten uns also als Kinder einmal an eine Kultur anpassen und dann vielleicht später noch einmal an eine ähnliche, wenn wir den Stamm wechselten. Heute aber müssen wir mit mehreren Kulturen gleichzeitig umgehen können, denn dank der Globalisierung verändern sich Technik und Sitten rapide. Denn was passiert, wenn hunderte von Kulturen auf einen Ort treffen und eine jede behauptet, die Wahrheit zu wissen? Es kommt zu Ausgrenzung, Rassismus und Kriegen.
To agree to disagree, wie es im Englischen heißt, genau das fällt uns so schwer. Unser Verstand ist nicht in der Lage, mehrere Wahrheiten gleichzeitig als wahr anzuerkennen. 8 Milliarden Menschen, 8 Milliarden Wahrheiten, wie man so schön sagt. Doch diese Aussage stimmt nicht ganz, denn das, was es uns ermöglicht hat, gemeinsam zu leben, sind eben Wahrheiten, die wir teilen. Dass ein kleines, graues Stück Papier, auf dem eine 5 oben steht, einen Wert von 5 Euro hat und dass man sich damit etwa 10 Semmel kaufen kann, das wäre so eine geteilte Wahrheit. Geld ist eine Idee, die wir so anwenden, dass sie wahr wird. Gewissermaßen ist auch die Zukunft ein Phänomen, das erst wegen unseres Planens und unseren Investitionen wahr wird.
So viel zur Erklärung der Wahrheit, doch warum lieben wir sie nur dann, wenn sie uns „gleichgültig lässt“? Das scheint eine sehr einseitige Beziehung zu sein. Wir sind doch diejenigen, die uns immer in den Mittelpunkt rücken, seit wann wollen wir abtauchen und als gleichgültig abgestempelt werden? Haben wir vielleicht auch dunkle Schattenseiten an uns? Und könnte die Wahrheit diese aufdecken, sofern sie uns nicht in Ruhe lässt? Denn wie bereits gesagt, was heute Wahrheit ist, muss es morgen noch lange nicht sein. Und wir wollen immer Recht haben, auf der richtigen Seite stehen, das Gute tun. Doch was, wenn sich die Wahrheit verändert und wir plötzlich in den Augen der Gesellschaft im Unrecht stehen? Erst dann fallen uns unsere eigenen Fehler vor Augen, die wir davor als richtig und normal eingestuft hatten. Dieser ständige Wandel von wahr und falsch in unserer Gesellschaft überfordert viele. Wie gendert man nun richtig oder darf man Fleisch noch essen? Es kommen immer mehr Gesetze hinzu, aber wer denkt schon daran, auch regelmäßig Gesetze wegzunehmen? Das, was als wahr angenommen wird, ändert sich stetig und dann stehen plötzlich viele, meist ältere Menschen, im politisch korrekten Abseits. Dann sagt Opa, damals habe die Jugend noch auf einen gehört und verweist auf die „g‘sunde Watschn“. Wir denken uns, lassen wir ihn doch reden, er kommt halt aus einer anderen Zeit. Doch was, wenn die gesellschaftliche Wahrheit sich auf einmal sehr schnell verändert? Dann beginnen wir die neue Wahrheit zu hassen, denn sie entblößt uns. Und so müssen wir uns entscheiden, ob wir uns verändern, was bedeutet, dass wir uns eingestehen, dass wir im Unrecht sind. Oder wir bleiben stehen, schwimmen gegen den Strom und gelten als Außenseiter. Und wenn ich Ihnen eines versichern kann, dann dass in 100 Jahren die Menschen auf uns zurückschauen werden und sich wundern werden, welch komische Wahrheiten wir hatten. Und doch ist unsere heutige Wahrheit deswegen nicht weniger wahr, sie ist eben nur eine von vielen Perspektiven auf eine schier endlose Anzahl von Phänomenen, die sich vor unseren Nasen abspielen. Wer weiß schon, ob wir nicht in 100 Jahren vielleicht das Wort Wahrheit aus unserem Sprachgebrauch streichen und nur noch im Konjunktiv reden? Und doch macht genau das uns Menschen aus, dass wir die Wahrheit wissen wollen, jedoch könnte ich mir ein Leben, in der ich die absolute Wahrheit wissen würde, nicht vorstellen. Es wäre schlicht zu langweilig.
David Angerer, 8c