Katharina Schneider erreicht den dritten Platz bei der österreichischen Philosophie Olympiade!

Insgesamt 21 Schülerinnen und Schüler nahmen am Landeswettbewerb der Philosophie Olympiade teil. Gab es in Vor-Corona-Zeiten die intensiven Tage des Philosophicums in Lech, wo wir den Vorträgen und Diskussionen lauschen durften, so mussten sich die heurigen Teilnehmer ganz ohne diese exklusive Vorbereitung den Aufgaben stellen. Wie immer galt es einen philosophischen Essay zu schreiben, der den folgenden Kriterien entsprechen sollte: Das Thema muss gut getroffen werden, die Argumente müssen logisch und überzeugend sein, philosophisches Wissen darf nicht fehlen, und schließlich sollte er auch noch kreativ sein.

Katharina Schneider setzte sich schließlich neben dem Feldkircher Paul Gruber durch und qualifizierte sich für das Finale, das auch heuer online abgehalten wurde. In vier Stunden galt es erneut, sein Wissen in einem Essay darzulegen – und das gelang Katharina sehr überzeugend: Sie belegte den ausgezeichneten dritten Platz! Wir gratulieren sehr herzlich!

 

Katharina Schneider:

„Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.“ – Hannah Arendt

Neunzehnhundertsiebenunddreißig. Russland. Du bist im Recht, wenn du als Beamter nachts um 02:32 Uhr an die Tür einer herabgekommenen Wohnung am Stadtrand von Moskau hämmerst. Du bist im Recht, wenn du das Schloss aufbrichst und den Wohnraum eines völlig Unschuldigen betrittst. Du bist im Recht, wenn du den Halbschlafenden anschreist und festnimmst. Du bist ebenso im Recht, wenn du ihm auf sein „Warum ich?“ eine Antwort verweigerst. „Ich bin im Recht“, wiederholst du immer wieder für dich selbst.

Recht rechtfertigt – unsere Existenz, unser Handeln, uns selbst. Es ist der Versuch, unser Bedürfnis nach Sicherheit zu stillen. Ohne Gesetze wäre die Menschheit in ihrer Organisation der der Tiere kein bisschen überlegen. Ohne Gesetze keine Menschheit. Sie vereinen uns. Ohne Gesetze nur Individuen. Und genau an dieser Stelle muss differenziert werden, die erste Ableitung folgen. Gesetz und Recht sind keine Synonyme. Gehorche ich dem Gesetz, bin ich per Definition im Recht. Doch bloß, weil ich im Recht bin, muss es noch lange nicht recht sein, was ich tue; muss ich kein Recht darauf haben, es zu tun. Ja, wir wissen schon lange – moralisch ist, wer moralisch ist, doch wer denkt schon daran, dass moralisch ist, nur wer vorzieht, recht zu haben, anstatt im Recht zu sein? Nur wer Dinge tut, die recht sind, anstatt anderer, die im Recht sind? Zwischen der Gewissheit, im Recht zu sein, oder recht zu haben, weil es mit dem Gewissen vereinbar ist, liegen Welten.

Und doch hast du nicht recht. Oder sag‘ mir, was ist recht daran, 275 Gefangene in eine Zelle der Butyrka zu stecken, die für 25 Mann ausgerichtet ist? Sag‘ mir, was ist recht daran, den Insassen zu sagen, sie müssen ihre Unschuld selbst beweisen, um freizukommen – während sie gefangen sind und mit der Außenwelt keinen Kontakt aufnehmen können? Ja sag‘ mir, was ist schon recht? Wenn alles recht ist, was Lenins Kommunismus dient, ja dann ist es recht, einen weiteren Häftling dem Untersuchungsrichter auszuliefern; wissend, dass dieser ihm heute Nacht wahrscheinlich das Rückgrat brechen wird. Beruhigt von deiner moralischen Überlegenheit begleitest du so – genau wie Tausende anderer Wächter – einen Unschuldigen zur Folterkammer. Man hat es dir ja so befohlen, du hältst dich nur ans Gesetz. Wie kann eine solche Dynamik entstehen, eine solche Unterwürfigkeit? Was passiert hier?

Heideggers Dasein wird zu wenig gelesen. Sein Prinzip der Eigentlichkeit, Authentizität, Echtheit wird gebrochen. Es werden Gesetze einfach angenommen, obwohl sie mit den eigenen Werten absolut nicht kompatibel sind. Wieso? Gehorsamkeit ist ein Urinstinkt. Ohne sie wäre eine funktionierende Gesellschaft nicht vorstellbar. Konflikten wird aus dem Weg gegangen und das Leben dadurch vereinfacht. Gleichzeitig ist sie gefährlicher als jede Atombombe. Gehorsamkeit ist eine Falle, eine heimtückische, eine vernichtende. In dem Moment, in dem man Gesetze von oben über all seine eigenen Werte stellt, verliert man etwas. Wer sollten wir noch sein, wenn wir nicht einmal mehr wir selbst sind; nicht einmal mehr unseren eigenen Werten treu bleiben? Unsere Werte, die sich natürlich im Laufe der Zeit verändern können und auch sollen, sind das einzig Bleibende in unserem Leben. Aber was bleibt, wenn das einzig Bleibende nicht geblieben ist, ist das hinterbliebene Nichts, der hinterbliebene Niemand. Und ein Jemand, der zum Niemand wird, ist zu allem fähig.

Du bist jetzt also zu einem Niemand geworden. Es mag dir vielleicht nicht bewusst sein, aber du hast dich selbst verloren, dich selbst hintergangen. Somit ist das Einzige, was dir noch bleibt, deine Partei. Du wirst noch grausamer, da dir das die neuen „Werte“ – die eigentlich nicht als sowas bezeichnet werden dürften – der Bolschewisten auch problemlos zulassen. Du bist ein weiterer Dominostein, der umgekippt ist und der einen weiteren umstoßen wird. Dank dir fällt auch der Nächste der Gehorsamkeit zum Opfer. Jetzt seid ihr zwei Niemande. Bald schon drei.

Ich. Ich ganz allein definiere für mich, was recht ist und was nicht. Du. Du ganz allein definierst für dich, was recht ist und was nicht. Und trotzdem sind wir uns in den Grundzügen unserer unbewusst-passierten Definition einig, ansonsten wären derart große Gesellschaftsstrukturen, wie wir sie heute kennen, nicht möglich. Wer flüstert uns ins Ohr, was recht ist? Diese Frage scheint nach einer höheren Instanz zu schreien. Aber genügt nicht auch schon der menschliche Verstand? Wenn es die mehr oder weniger vernünftige Vernunft ist, die meine Werte festlegt und somit auch, was ich als recht empfinde und was nicht, wie kann dann dieselbe Vernunft mir anordnen, Gesetzen zu gehorchen, die nicht den von ihr definierten Werten entsprechen; die ich als unrecht empfinde? Ich muss die Vernunft loswerden. Man stößt unweigerlich auf ein Paradoxon: Wie soll ein Mensch das Recht zu gehorchen haben, wenn zur Einbettung der Gehorsamkeit in die eigene Wertepyramide die Vernunft ausgeschalten werden muss, welche die eigenen Werte überhaupt erst festlegen kann?

So lebst du dein Leben als Aufseher im Gulag weiter, wirst vielleicht ein- oder zweimal befördert und nimmst einen angesehenen Posten in den Kreisen der Niemande ein. Mit jedem Tag bist du überzeugter, hier das einzig Richtige, das einzig Sinnvolle zu tun, denn mit jedem Tag rückt der Zusammenfall deiner Wertepyramide, das Verlieren deiner selbst einen Tag weiter in die Vergangenheit. Du findest Gefallen daran. Doch irgendwann, spätestens 1991 mit dem Zerfall deiner geliebten Sowjetunion, musst du dich für deine Taten rechtfertigen und merkst, dass du das nicht kannst, weil dafür jetzt genau die Vernunft nötig wäre, die du bei der Adaption der Gehorsamkeit über Bord geworfen hast. Du bist einer der wenigen, die sich überhaupt vor Gericht behaupten müssen. Du hast Angst, verurteilt und so behandelt zu werden, wie du jahrelang selbst Unschuldige behandelt hast – mit dem Unterschied, dass du dadurch zum Schuldigen wurdest. Du zitterst, als dein Urteil verkündet wird, so wie du vor zwei Jahren gezittert hast, als Alexander Solschenizyns Buch in Russland veröffentlicht wurde, in dem du namentlich als Grausamster aller Grausamsten erwähnt wirst. Jeder weiß, wer du bist. Jeder weiß, was du getan hast. Jeder weiß, dass die Anzahl der durch dich gestorbenen Leute unzählbar ist. Und trotzdem wirst du freigesprochen: „Unschuldig. Der Angeklagte verhielt sich zu keinem Zeitpunkt gesetzeswidrig. Er war stets lediglich Befehlsausführender.“

Ein Skandal. Kein Mensch hat das Recht, seinen Verstand auszuschalten. Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.